Stärkung der Patientenautonomie - Psychiatrische Patientenverfügung
Jede Patientin und jeder Patient hat das Recht auf Selbstbestimmung. Die Respektierung des Patientenwillens ist für eine angemessene medizinische und psychotherapeutische Behandlung von zentraler Bedeutung.
Die am Sanatorium Kilchberg entwickelte Vorlage «Psychiatrische Patientenverfügung» ist als Hilfestellung für Sie konzipiert. Sie soll Ihnen helfen, eine individuelle Patientenverfügung zu erstellen.
- Welchen therapeutischen Massnahmen können Sie im Falle Ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmen oder nicht zustimmen?
- Welche persönlichen Wünsche liegen Ihnen besonders am Herzen?
- Welche eigenen Wertvorstellungen und persönlichen Erfahrungen leiten Sie?
Das Formular enthält die wichtigsten Hinweise für die Erstellung einer eigenen Patientenverfügung.
Die Vorlage orientiert sich an den aktuellen gesetzlichen Bestimmungen des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, das seit Januar 2013 für die gesamte Schweiz in Kraft ist.
Flyer Spezialsprechstunde Psychiatrische Patientenverfügung
Formular Psychiatrische Patientenverfügung
FAQ Psychiatrische Patientenverfügung
«Mit einer psychiatrischen Patientenverfügung oder einer Behandlungsvereinbarung übernehme ich Verantwortung und fördere meine Selbstbestimmtheit.»
Dr. med. René Bridler M.H.A.
Fragen und Antworten
Was ist eine Patientenverfügung?
Mit einer Patientenverfügung legt eine Person fest, welchen medizinischen Massnahmen sie in Zukunft zustimmt und welche sie ablehnt. Sie kann zudem eine natürliche Person bezeichnen, die in ihrem Namen entscheiden soll und der sie Anweisungen erteilen kann. Die Patientenverfügung gilt als höchstpersönliche Angelegenheit, d.h. sie gibt die ureigenen Wertvorstellungen, Abneigungen und Präferenzen der verfügenden Person wieder. Es gibt daher in diesem Sinne kein «richtig» oder «falsch».
In welchem Gesetz ist die Patientenverfügung geregelt?
Die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen finden sich in den Art. 370 bis Art. 373 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB). Sie bilden zusammen einen eigenen Abschnitt im sog. Kindes- und Erwachsenenschutzrecht des ZGB und gelten für die gesamte Schweiz. Die meisten Kantone haben ergänzend sog. Einführungsgesetze erlassen oder regeln bestimmte Aspekte in anderen kantonalen Gesetzen.
Wann tritt die Patientenverfügung in Kraft?
Die Patientenverfügung tritt in Kraft, wenn die verfügende Person in einen urteilsunfähigen Zustand gerät und ihre Wünsche und Abneigungen nicht mehr angemessen wahrnehmen oder wirksam vertreten kann.
Unter welchen Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung gültig?
Die Patientenverfügung muss schriftlich (nicht handschriftlich) abgefasst, datiert und von der verfügenden Person eigenhändig unterzeichnet sein. Für die Erstellung muss die Person urteilsfähig sein. Damit wird sichergestellt, dass in der Patientenverfügung die grundlegenden, überdauernden Werte und Lebensziele der verfügenden Person ihren Niederschlag finden.
Was gilt für den Widerruf?
Auch für den Widerruf einer Patientenverfügung muss die Person urteilsfähig sein.
Welche Arten von Patientenverfügung gibt es?
Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Typen von Patientenverfügungen. In der Praxis haben die meisten Patientenverfügungen einen sog. End of Life (EOL)-Charakter, d.h. sie regeln Zustände, wie sie typischerweise am Lebensende oder in Situationen mit schweren körperlichen Einschränkungen als Folge von Krankheiten oder Unfällen auftreten. Sie sind daher für psychische Erkrankungen nicht geeignet.
Was ist speziell an einer psychiatrischen Patientenverfügung?
Im Gegensatz zu den oben erwähnten EOL-Verfügungen fokussieren psychiatrische Patientenverfügungen auf Zustände einer vorübergehenden Urteilsunfähigkeit, die aufgrund einer seelischen Krise auftreten. Nach Abklingen der akuten Krankheitsphase ist die Person wieder urteilsfähig und entscheidet selbst über die Behandlungsmassnahmen.
Wann ist ein guter Zeitpunkt für die Erstellung einer psychiatrischen Patientenverfügung oder einer Behandlungsvereinbarung?
Eine Patientenverfügung kann jederzeit erstellt werden, wobei die Person urteilsfähig sein muss. Ein günstiger Zeitpunkt für die Ausarbeitung einer Behandlungsvereinbarung ist der Moment kurz vor der Entlassung aus der psychiatrischen Klinik.
Welche Vorteile bringt eine psychiatrische Patientenverfügung?
Mit einer psychiatrischen Patientenverfügung besteht die Gewähr, dass dem Behandlungsteam im Falle einer Urteilsunfähigkeit die Werthaltungen, Wünsche und Abneigungen der Person bekannt sind. Speziell wertvoll wird die psychiatrische Patientenverfügung durch den Umstand, dass die Person frühere Erfahrungen mit der eigenen Erkrankung und dem psychiatrischen Behandlungssystem in das Dokument einbauen kann. Die Lebensnähe, d. h. die Basierung auf eigenen günstigen und ungünstigen Erfahrungen, könnte man als «stärksten Trumpf» der psychiatrischen Patientenverfügung bezeichnen.
Wieso «lohnt es sich», eine psychiatrische Patientenverfügung zu erstellen?
Eine psychiatrische Patientenverfügung «lohnt sich» immer. Sie fördert die Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Fähigkeiten, Erfahrungen, Wertvorstellungen, langfristigen Zielen und Plänen, den eigenen Schwächen und Verletzlichkeiten usw. Es ist ein Instrument, das einer Person hilft, den eigenen Genesungsweg (Recovery) zu gestalten, anzupassen und immer wieder aufs Neue zu definieren.
Für wen eignet sich eine psychiatrische Patientenverfügung?
Das Erstellen einer psychiatrischen Patientenverfügung eignet sich für Menschen mit der Erfahrung einer stationären psychiatrischen Behandlung. Besonders zu empfehlen ist sie bei Personen, die in ihrer Vorgeschichte eine unfreiwillige Klinikeinweisung und / oder eine medikamentöse Behandlung gegen den Willen erfahren haben oder bei denen es zu einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit kam.
Gibt es allgemeine Einschränkungen in der Wirksamkeit einer Patientenverfügung?
Grundsätzlich muss das Behandlungsteam der Patientenverfügung entsprechen, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder begründete Zweifel bestehen, dass sie auf dem freien Willen der betroffenen Person beruht oder noch deren mutmasslichen Willen wiedergibt. Abweichungen von der Patientenverfügung müssen schriftlich dokumentiert und begründet werden.
Gibt es spezifische Einschränkungen in der Wirksamkeit einer psychiatrischen Patientenverfügung?
Falls eine Person mittels Fürsorgerischer Unterbringung (FU) in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert ist, verliert die Patientenverfügung bei Urteilsunfähigkeit einen Teil ihrer üblichen Durchschlagskraft. Sie muss in diesem Fall bei der Planung der Behandlungsmassnahmen nur «berücksichtigt» werden. Dasselbe gilt auch für eine ggf. in der Patientenverfügung bestimmte natürliche Person, die die verfügende Person vertreten soll. Sie muss aber trotzdem angehört und in die Behandlungsplanung mit einbezogen werden. Weicht das Behandlungsteam von den in einer Patientenverfügung verankerten Therapiemassnahmen oder von den Angaben der vertretenden Person ab, muss dies im Patientendossier dokumentiert und begründet werden. Die gesetzlichen Bestimmungen zur Einschränkung unter FU-Bedingungen finden sich in Art. 433 ZGB in Verbindung mit Art. 380 ZGB.
Warum hat das Parlament diese Einschränkung im Gesetz verankert?
Der Gesetzgeber wollte das Entstehen einer «Pattsituation» vermeiden. Eine solche Situation ist denkbar, wenn eine urteilsunfähige Person per Fürsorgerischer Unterbringung (FU) gegen ihren Willen in einer Klinik hospitalisiert ist, dort aber nicht behandelt werden kann, weil sie in der Patientenverfügung alle wirksamen Therapiemassnahmen ablehnt.
Was ist eine Patientenverfügung vom «Odysseus-Typ»?
Diese Art der psychiatrischen Patientenverfügung wird auch als «selbstbindende» Verfügung bezeichnet. Mit ihr stimmt eine Person im Voraus medizinischen Massnahmen zu, von denen sie weiss, dass sie sie im urteilsunfähigen Zustand während der seelischen Krise mit grosser Wahrscheinlichkeit ablehnen wird. Der Name leitet sich von der griechischen Mythologie ab. Odysseus liess sich auf seiner Irrfahrt aufgrund einer Weissagung an den Mast seines Schiffes festbinden und den Ruderern die Ohren mit Wachs verstopfen. Dank dieser Massnahmen gelangt es ihm, die Insel der Sirenen heil zu umschiffen und trotzdem ihrem betörenden Gesang zu lauschen.
Genau genommen, unterscheidet sich dieser Typ nicht grundlegend von einer «normalen» psychiatrischen Patientenverfügung. Im Kern beinhalten die meisten Verfügungen Behandlungsmassnahmen, denen die betroffene Person im urteilsfähigen Zustand zustimmt, die sie in urteilsunfähigem Zustand aber nicht mehr selbst einbringen kann oder sogar ablehnt.
Braucht es eine persönliche Beratung vor der Erstellung einer Patientenverfügung?
Das Parlament hat bewusst darauf verzichtet, im Gesetz eine Beratungspflicht zu verankern. Allerdings wird eine Beratung von den meisten Organisationen und Fachleuten empfohlen. Die wichtigsten Gründe dazu finden sich unter dem Punkt zu den Kenntnissen aus der Wissenschaft (s. unten).
Was ist bei der Aufbewahrung wichtig?
Bis anhin gibt es kein schweizweites Register, in dem eine psychiatrische Patientenverfügung hinterlegt werden kann. Es liegt daher in der Verantwortung der verfügenden Person, dem Behandlungsteam das Vorhandensein des Dokuments und den Ort bzw. die Orte seiner Aufbewahrung zur Kenntnis zu bringen. Es ist sehr zu empfehlen, die Verfügung an mehreren Orten zu hinterlegen, bspw. bei vertrauten Angehörigen oder weiteren Personen des Vertrauens.
Lässt sich die Patientenverfügung in ein Patientendossier integrieren?
Betroffene, die im Sanatorium Kilchberg in Behandlung sind oder waren, können das Dokument unkompliziert im Patientendossier hinterlegen lassen. Es ist davon auszugehen, dass dies auch bei allen anderen psychiatrischen Kliniken möglich ist. Auf diese Weise lässt sich die rechtzeitige Verfügbarkeit des Dokuments im Falle einer Hospitalisation in der entsprechenden Klinik sicherstellen.
Was sagt die Wissenschaft?
Psychiatrische Patientenverfügungen (PPV) werden seit vielen Jahren mit verschiedenen Methoden beforscht. Die meisten Studien stammen aus dem angelsächsischen Raum, u.a. weil diese Länder als erste den Einsatz von PPV gesetzlich verankert haben. Es gibt aber keine plausiblen Gründe anzunehmen, dass die gewonnenen Erkenntnisse bei uns keine Gültigkeit haben könnten. Die wesentlichen Forschungsresultate finden sich nachfolgend:
- Betroffene und ihre Angehörigen stehen PPV sehr positiv gegenüber.
- Sie schätzen insb. die mit einer PPV verbundenen Selbstbefähigung (Empowerment) und Selbstbestimmtheit.
- Dasselbe trifft auch auf betroffene Genesungsbegleiterinnen und -begleiter zu, sog. Peers.
- Mitarbeitende im Gesundheitswesen, insb. Ärztinnen und Ärzte, haben eine etwas kritischere Haltung, weil sie u.a. eine Einschränkung der therapeutischen Möglichkeiten oder rechtliche Verstrickungen befürchten.
- Die hiesige Forschung zeigt ein erfreuliches Bild: In der Schweiz besteht bei den psychiatrischen Fachpersonen eine offene und positive Einstellung gegenüber dem Instrument der PPV.
- Trotzdem sind in der Schweiz PPV bis anhin wenig verbreitet. Hier die Hauptgründe:
- Sowohl die Betroffenen wie auch die Fachleute sind mit PPV wenig vertraut.
- Nur wenige Betroffene werden von ihren Behandelnden aktiv auf eine PPV angesprochen.
- Umgekehrt fragen nur wenige Betroffene bei den Behandelnden aktiv nach einer Unterstützung bezüglich PPV.
- PPV entstehen praktisch nie spontan durch die Betroffenen selbst, auch dann nicht, wenn sie dazu Informationen in ausgedruckter oder elektronischer Form erhalten.
- Die Durchführung eines einzigen gezielten Beratungsgesprächs erhöht signifikant die Wahrscheinlichkeit, dass die interessierte Person eine PPV erstellt.
- Nahezu alle Personen mit einer PPV empfehlen anderen Betroffenen, ebenfalls eine PPV zu erstellen.
- PPV sind meist sehr lebensnah, für das Behandlungsteam verständlich und konstruktiv abgefasst.
- Nur eine sehr kleine Minderheit (wenige Prozente) lehnt in einer PPV jede Form einer psychiatrischen Behandlung ab.
Lassen sich mit einer psychiatrischen Patientenverfügung Zwangseinweisungen oder Zwangsbehandlungen vermeiden?
Dazu gibt es nur wenig Forschung, die bisherigen Resultate sind gemischt. In einer grossen kontrollierten Studie konnte eine Reduktion an unfreiwilligen Klinikeinweisungen und Behandlungen nachgewiesen werden. Andere Untersuchungen konnten diesen Befund nicht bestätigen. Trotzdem schätzten in diesen Studien die allermeisten der untersuchten Personen und ihr Umfeld das Instrument der psychiatrischen Patientenverfügung und empfehlen es weiter.
Wenn sich Zwangsmassnahmen nicht verringern oder sogar vermeiden lassen, wieso «lohnt sich» dennoch, eine psychiatrische Patientenverfügung zu erstellen?
Je besser das Behandlungsteam über die Präferenzen, Abneigungen, Wertvorstellungen und früheren Erfahrung der verfügenden Person Bescheid weiss, desto besser kann es die nötige Therapie anpassen und eine Eskalation vermeiden. Personen, die in der Vorgeschichte Zwangsmassnahmen erlebt haben, können bspw. in der Verfügung alle deeskalierenden Massnahmen aufzählen, die sie für sich als hilfreich erachten. Zwangsmassnahmen folgen keinem Alles-oder-Nichts-Prinzip, sondern sind Ereignisse mit einer längeren oder kürzeren Vorgeschichte. Selbst wenn diese Vorgeschichte sehr kurz ist, gibt es immer günstige Momente und Ansatzpunkte für beruhigende, deeskalierende Massnahmen. Diese gelingen aber nur, wenn sie bekannt sind und rechtzeitig ergriffen werden.
Falls es, als ultima ratio, zu einer Zwangsbehandlung kommt, ist es für das Behandlungsteam von grosser Bedeutung zu wissen, dass es ein Medikament einsetzt, zu dem die betroffene Person im Rahmen der Erstellung der Patientenverfügung einmal JA sagen konnte – auch wenn sie es in der aktuellen Situation wieder ablehnt.
Die Behandlungsvereinbarung und ihre Unterscheidungen zu der Patientenverfügung
Was ist eine Behandlungsvereinbarung?
Bei der Behandlungsvereinbarung handelt es sich um ein Dokument, das gemeinsam mit einem Behandlungsteam oder einzelnen Verantwortlichen erarbeitet wird. Es ist, anders als eine Patientenverfügung, keine einseitige Willensbekundung, sondern ein Instrument, das auf Augenhöhe in einer partnerschaftlichen Weise entsteht. Nach der Unterzeichnung durch die betroffene Person und eine Kaderärztin / einen Kaderarzt der entsprechenden Abteilung oder Klinik, erlangt es eine verbindliche Gültigkeit, sofern die Hospitalisation wegen eines in der Vereinbarung vorweggenommenen Krankheitszustands in derselben Klinik erfolgt. Das Dokument ist ein Bestandteil des Patientendossiers.
In welchem Gesetz ist die Behandlungsvereinbarung geregelt?
Die massgebende Bestimmung findet sich in Art. 436 ZGB, gilt schweizweit und zielt auf Personen ab, die mittels Fürsorgerischer Unterbringung (FU) hospitalisiert wurden und bei denen nach dem Austritt eine Rückfallgefahr besteht. Das Behandlungsteam soll nach Möglichkeit vor dem Austritt zusammen mit der betroffenen Person Behandlungsgrundsätze für den Fall einer erneuten Klinikeinweisung vereinbaren. Diese einvernehmlich erarbeiteten Behandlungsgrundsätze werden im Rahmen einer Behandlungsvereinbarung verschriftlicht und im Patientendossier verankert. Sie gelten für dieselbe Klinik und sind für diese in der oben beschrieben Weise verbindlich.
Die meisten der besprochenen FAQ gelten sinngemäss auch für das Instrument der Behandlungsvereinbarung.